Eine meiner spannendsten Aufgaben war die Leitung der Produktstrategie eines schnell wachsenden Unternehmens im IoT-/Internet-der-Dinge-Segment. Ich war verantwortlich für Markteinstieg, Umsatz und Profitabilität mehrerer Produktlinien.
Das Produktportfolio umfasste Sensorlösungen und Software zum Verarbeiten und Interpretieren der Sensorinformationen. Ein Beispiel: Bestimmte Muster aus einem dreiachsigen Beschleunigungssensor lassen auf den Sturz des Objektes schließen, an dem der Sensor befestigt ist. Die Software interpretiert diese Information und löst entsprechende Reaktionen aus.
Wie die meisten Software-Produkte ist diese technische Lösung bei vielen Anwendungsfällen zwar theoretisch anwendbar, die Ressourcen für Vertrieb, Marketing und Entwicklung aber eingeschränkt.
Aus produktstrategischer Perspektive, insbesondere bei einem mit Wachstumskapital finanzierten Unternehmen, lautete die zentrale Frage: Wie können wir mit den bestehenden Ressourcen schnell und nachhaltig Umsatz und Profitabilität steigern?
Meine Aufgabe war also nachzuvollziehen, welche Faktoren das Wachstum behindern. Die Hypothesen taten sich schnell auf. Mitarbeiter aus Marketing, Vertrieb und Entwicklung präsentierten vier mögliche Antworten:
Es gibt nicht genug Interessenten
Der Preis unsere Produktes ist zu hoch
Unsere Vertriebler können die technische Brillianz nicht erklären
Wir verlieren zu viele Kunden an unseren Wettbewerb
Für sich genommen ist jede einzelne Hypothese möglich, zusammen geben sie aber keine klare Indikation, welche Veränderungen vorgenommen werden müssen, um das Produkt erfolgreich zu positionieren. Die beste Antwort auf diese Frage können, wie so oft, die Kunden geben. Um ihre Einschätzungen im Licht der genannten Hypothesen zu verstehen, nutzen viele Software-Unternehmen das Instrument der Win/Loss-Analyse. Sie ermöglicht es Unternehmen, ihr eigenes Produktangebot aus Kundensicht besser zu verstehen und sinnvolle Anpassungen an Preis, Funktionsumfang und Sales-Prozess vorzunehmen.
Grundlage für Win/Loss Analyse - der Vertriebsprozess
Da wir unser Ziel in Umsatz und Profitabilität messen, wandert der Blick auf den Vertriebsprozess. Der Vertriebsprozess umfasst in diesem Kontext nicht nur “das Verkaufsgespräch”, sondern alle vertrieblichen Berührungspunkte und Prozesse, die wir nutzen, um einen potenzieller Kunden zu gewinnen. Potenzielle Kunden sind in der Win/Loss-Analyse auch solche, die unser Produkt und Unternehmen nicht kennen. – Wie wir sehen werden, produziert diese weitere Perspektive überraschend hilfreiche Ergebnisse.
Unternehmen steht eine große Breite von Vertriebsmodellen zur Verfügung: vom Freemium-Ansatz über Vertrieb mit Vertretern, Messen, Telefonisten bis hin zum reinen Online-Vertrieb gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, ihr Produkt an den Kunden zu bringen. .
Unabhängig vom Vertriebsmodell steht am Beginn des Vertriebsprozesses ein Zielkunde, d.h. ein Unternehmen oder eine Person, für die das Produkt grundsätzlich geeignet wäre. Die Herausforderung besteht darin, dass dieser potenzielle Kunde zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von der Existenz und den Vorzügen des Produkts hat.
Von diesem Ausgangspunkt folgt die zweite Phase. Der Interessent ist nun “qualifiziert” – wir gehen nun davon aus, dass der Interessent die wesentlichen Informationen zum Produkt enthalten hat. Außerdem wissen wir, dass der Kunde über ein Budget verfügt und haben verifiziert, dass er das Problem, welches unser Produkt löst, wirklich hat.
Nach dieser ersten Qualifizierung entscheidet sich der Kunde, ob er das Produkt kauft – oder eben nicht. Der Kauf des Produkts führt zu Umsatz (der “Win” in der Win/Loss-Analyse). Kauft er dagegen nicht, ist er ein “Loss”. Eben dieses “Loss” ermöglicht nun eine der hilfreichsten, aber kaum verbreiteten Analyse-Methoden, mit der Unternehmen ihre Produkt- und Sales-Strategie signifikant verbessern können.
Wo geht der Kunde verloren?
Um effektiv zu Fragen warum wir Kunden verlieren, fragen wir uns zunächst, wo in unserem Vertriebsprozess wir Kunden verlieren (Abbildung 1) Grundsätzlich gibt es hier zwei mögliche Antworten:
Option 1: Qualifizierte Interessenten kaufen unser Produkt nicht. Trotz vorhandenen Budgets, verifizierten Problems und des Verständnisses unseres Produkts kaufen die Kunden nicht. Ein Beispiel: Ein Kunde auf der Suche nach einem Premium-Sportwagen lässt sich beim Porsche-Händler umfänglich beraten, entscheidet sich dann aber für das Modell eines anderen Herstellers.
Option 2: Interessenten für unser Produkt, die beispielsweise Unterlagen mitnehmen oder sich für eine Produkt-Demo anmelden, stellen sich am Ende als nicht qualifiziert heraus. Für den Porsche-Händler ist ein solcher unqualifizierter Interessent z.B. ein ambitionierter, aber mittelloser Student, der sich umfassend über Ausstattungspakete und Motorleistung informiert, am Ende mangels Finanzkraft aber nicht kauft.
Option 3: Kunden wissen nicht, dass wir ein Produkt haben, das ihr Problem lösen könnte. Diese Kunden haben wir verloren, bevor wir ein Angebot machen konnten. Für den Porsche-Händler wäre ein solcher verlorener Kunde etwa eine wohlhabende Familie mit drei Kindern, die nicht weiß, dass Porsche nicht nur hoch motorisierte Zweisitzer, sondern auch familienfreundliche Angebote wie den Cayenne anbietet.
Win/Loss Analyse - Die Lektion steckt im “Loss”
Von welchem Kunden können wir also am meisten darüber lernen, was unserem Umsatzwachstum im Wege steht? Grundsätzlich gilt: Je näher der Kunde einem Kauf ist, desto aufschlussreicher ist seine Entscheidung zum (Nicht-) Kauf.
Wurde zum Beispiel tatsächlich eine eigene Software gekauft oder ist er bei der, im Softwarebereich oft üblichen, Kombination aus E-Mail, Excel, Dropbox und Co. geblieben? Und warum? Ist die Einführung einer Lösung zu schwierig? Gab es kein Budget für die Lösung? Oder war die Person, die das Angebot erhielt, am Ende nicht in der Lage zu entscheiden? Die Antworten helfen zu ermitteln, ob das Problem im Produkt oder Vertrieb und damit im Unternehmen oder im Markt selbst liegt.
Nehmen wir an, Teil unseres Verkaufsprozesses ist eine Demo des Produkts per Team Viewer, gefolgt von einem Angebot. Unsere Loss-Analyse sähe aus wie folgt:
Erst einmal verlieren wir 70% der Angebote, die wir machen. Der wichtigste Grund dafür ist, dass der potenzielle Kunde kein Budget hatte, gefolgt von der Tatsache, dass die bestehende Lösung gut genug ist (Abbildung 2).
Ein Blick auf diese Zahlen würde vermuten lassen, dass die Chancen für das Produkt schlecht stehen – die Kunden haben kein Budget oder sind zufrieden mit der bestehenden Lösung. Gleichzeitig haben wir beträchtliche Ressourcen in die Video-Demos investiert, die nur eine niedrige Rendite gezeitigt haben.
Betrachten wir nun dasselbe Unternehmen mit demselben Produkt zwei Monate später: Aus dem anfangs wenig aussichtsreichen Produkt ist ein Umsatzmotor geworden, drei von vier Demos führen zum Verkauf (Abbildung 3). Was hat sich geändert?
Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn die Qualifizierung der potenziellen Kunden geklärt ist – andernfalls laufen wir Gefahr, zu viele Interessenten wie den Studenten beim Porsche-Händler in unserer Pipeline zu haben. Um einen wirksamen Vergleich anzustellen und Ursachen destillieren zu können, müssen wir also qualifizieren.
Die Qualifizierung - Eine Innovation von IBM
Die Idee, Interessenten und Geschäftsmöglichkeiten systematisch zu qualifizieren, wurde zuerst von IBM in den 1950er-Jahren propagiert. IBM suchte nach einem Prozess, um sicherzustellen, dass die begrenzten Ressourcen des Konzerns richtig eingesetzt werden. Die Methode hat sich bis heute bewährt.
Budget verifiziert, dass beim Kunden ein passendes Budget existiert.
Authority stellt sicher, dass derjenige, mit dem man im Prozess ist, tatsächlich die Autorität hat, über den Kauf des Produkts zu entscheiden.
Need bestätigt, dass der Kunde das Problem, das unser Produkt löst, tatsächlich hat.
Timelinefordert, dass der Kunde eine klare Zeitachse hat, in der das Problem gelöst bzw. ein Kauf werden soll.
Die Qualifizierung durch die BANT-Methode ermöglicht Unternehmen so den Einsatz von Ressourcen bei potenziellen Kunden mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit, damit besser planbare Umsätze, und produziert die Basis für fruchtbare Win/Loss-Analysen.
Schritte auf dem Weg zur Win/Loss Analyse
Im Folgenden wird beschrieben, wie Unternehmen die Basis für eine erfolgreiche Win/Loss-Analyse legen können: Jeder Schritt der Vorbereitung besteht aus der Beantwortung einer Reihe von Fragen zu Kundenbasis, Produkt und Sales-Prozessen.
Schritt 1: Qualifizierung einführen und überprüfen
Wie stark schwanken die Win/Loss Raten zwischen Monaten oder Quartalen? Bei hohen Schwankungen ist es wahrscheinlich, das die Qualifizierung unregelmäßig ist. In diesem Fall geht es zunächst darum, systematisch zu qualifizieren.
Schritt 2: Loss-Gründe erfassen
Typischerweise endet nach einem gescheiterten Verkaufsversuch die Kommunikation. Um aber zu verstehen, warum es nicht zu einem Kauf gekommen ist, muss man genau dann noch einmal nachfragen. Wichtig für den Interessenten ist, dass die Frage nach den Gründen wirklich aus Interesse gestellt wird und nicht als maskierter Versuch, doch noch einen Verkauf zu erzielen.
Um jeglichen Argwohn in diese Richtung zu beseitigen, sollte die Nachfrage von einer anderen Funktion im Unternehmen, etwa der Produktmanager oder gar dem Geschäftsführer selbst einige Wochen nach dem Scheitern des Verkaufsprozesses verantwortet werden. Um sicherzugehen, sollte bei dieser zweiten Ansprache explizit darauf hingewiesen werden, dass der Zweck der Kontaktaufnahme nicht ein weiterer Verkaufsversuch ist, sondern ausschließlich der Verbesserung des Angebots für zukünftige Kunden dient.
Autor: Steffen Bünau